8

In den nächsten Tagen hatte die Frau Frühschicht. Sie kam um zwölf nach Hause, und

ich schwänzte Tag auf Tag die letzte Stunde, um sie auf dem Treppenabsatz vor ihrer

Wohnung zu erwarten. Wir duschten und liebten uns, und kurz vor halb zwei zog ich mich

hastig an und rannte los. Um halb zwei wurde Mittag gegessen. Am Sonntag gab es das

Mittagessen schon um zwölf, begann und endete aber auch ihre Frühschicht später.

Ich hätte das Duschen lieber gelassen. Sie war von peinlicher Sauberkeit, hatte morgens

geduscht, und ich mochte den Geruch nach Parfum, frischem Schweiß und Straßenbahn,

den sie von der Arbeit mitbrachte. Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper; ich

ließ mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne ein, und sie lehrte mich, das nicht

verschämt zu tun, sondern mit selbstverständlicher, besitzergreifender Gründlichkeit. Auch

wenn wir uns liebten, nahm sie selbstverständlich von mir Besitz. Ihr Mund nahm meinen,

ihre Zunge spielte mit meiner, sie sagte mir, wo und wie ich sie anfassen sollte, und wenn

sie mich ritt, bis es ihr kam, war ich für sie nur da, weil sie sich mit mir, an mir Lust

machte. Nicht daß sie nicht zärtlich gewesen wäre und mir nicht Lust gemacht hätte. Aber

sie tat es zu ihrem spielerischen Vergnügen, bis ich lernte, auch von ihr Besitz zu

ergreifen.

Das war später. Ganz lernte ich es nie. Lange fehlte es mir auch nicht. Ich war jung, und

es kam mir schnell, und wenn ich danach langsam wieder lebendig wurde, ließ ich sie

gerne von mir Besitz nehmen. Ich sah sie an, wenn sie über mir war, ihren Bauch, der über

dem Nabel eine tiefe Falte warf, ihre Brüste, die rechte ein winziges bißchen größer als die

linke, ihr Gesicht mit dem geöffneten Mund. Sie stützte ihre Hände auf meine Brust und

riß sie im letzten Moment hoch, hielt ihren Kopf und stieß einen tonlos schluchzenden,

gurgelnden Schrei aus, der mich beim ersten Mal erschreckte und den ich später begierig

erwartete.

Danach waren wir erschöpft. Oft schlief sie auf mir ein. Ich hörte die Säge im Hof und

die lauten Rufe der Handwerker, die an ihr arbeiteten und sie übertönten. Wenn die Säge

verstummte, drang schwach das Verkehrsgeräusch der Bahnhofstraße in die Küche. Wenn

ich Kinder rufen und spielen hörte, wußte ich, daß die Schule aus und ein Uhr vorbei war. 

Der Nachbar, der über Mittag nach Hause kam, streute Vogelfutter auf seinen Balkon, und

die Tauben kamen und gurrten.

»Wie heißt du?« Ich fragte sie am sechsten oder siebten Tag. Sie war auf mir

eingeschlafen und wachte gerade auf. Ich hatte bis dahin die Anrede, das Sie und das Du

vermieden.

Sie fuhr hoch. »Was?«

»Wie du heißt!«

»Warum willst du das wissen?« Sie sah mich mißtrauisch an.

»Du und ich… ich kenne deinen Nachnamen, aber nicht deinen Vornamen. Ich will

deinen Vornamen wissen. Was ist daran…«

Sie lachte. »Nichts, Jungchen, nichts ist daran falsch. Ich heiße Hanna.« Sie lachte

weiter, hörte nicht auf, steckte mich an.

»Du hast so komisch gekuckt.«

»Ich war noch halb im Schlaf. Wie heißt du?«

Ich dachte, sie wüßte es. Es war gerade schick, die Schulsachen nicht mehr in der

Tasche, sondern unter dem Arm zu tragen, und wenn ich sie bei ihr auf den Küchentisch

legte, stand obenauf mein Name, auf den Heften und auch auf den Büchern, die ich gelernt

hatte, mit starkem Papier einzubinden und mit einem Etikett zu bekleben, das den Titel des

Buchs und meinen Namen trug. Aber sie hatte nicht darauf geachtet.

»Ich heiße Michael Berg.«

»Michael, Michael, Michael.« Sie probierte den Namen aus. »Mein Jungchen heißt

Michael, ist ein Student…«

»Schüler.«

»…ist ein Schüler, ist, was, siebzehn?«

Ich war stolz auf die zwei Jahre mehr, die sie mir gab, und nickte.

»…ist siebzehn und will, wenn er groß ist, ein berühmter…« Sie zögerte.

»Ich weiß nicht, was ich werden will.«

»Aber du lernst fleißig.«

»Na ja.« Ich sagte ihr, daß sie mir wichtiger sei als Lernen und Schule. Daß ich auch

gerne öfter bei ihr wäre. »Ich bleibe sowieso sitzen.«

»Wo bleibst du sitzen?« Sie richtete sich auf. Es war das erste richtige Gespräch, das

wir miteinander hatten.

»In der Untersekunda. Ich hab zuviel versäumt in den letzten Monaten, als ich krank

war. Wenn ich die Klasse noch schaffen wollte, müßte ich wie blöd arbeiten. Ich müßte

auch jetzt in der Schule sein.« Ich erzählte ihr von meinem Schwänzen.

»Raus.« Sie schlug das Deckbett zurück. »Raus aus meinem Bett. Und komm nicht

wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst. Blöd ist deine Arbeit? Blöd? Was meinst du,

was Fahrscheine verkaufen und lochen ist.« Sie stand auf, stand nackt in der Küche und 

spielte Schaffnerin. Sie schlug mit der Linken die kleine Mappe mit den

Fahrscheinblöcken auf, streifte mit dem Daumen derselben Hand, auf dem ein

Gummifingerhut steckte, zwei Fahrscheine ab, schlenkerte mit der Rechten, so daß sie den

Griff der am Handgelenk baumelnden Zange zu fassen bekam, und knipste zweimal.

»Zweimal Rohrbach.« Sie ließ die Zange los, streckte die Hand aus, nahm einen

Geldschein, klappte vor ihrem Bauch die Geldtasche auf, steckte den Geldschein hinein,

klappte die Geldtasche wieder zu und drückte aus den außen angebrachten Behältern für

Münzen das Wechselgeld heraus. »Wer hat noch keinen Fahrschein?« Sie sah mich an.

»Blöd? Du weißt nicht, was blöd ist.«

Ich saß auf dem Bettrand. Ich war wie betäubt. »Es tut mir leid. Ich werde meine Arbeit

machen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in sechs Wochen ist das Schuljahr vorbei.

Ich werde es versuchen. Aber ich schaff’s nicht, wenn ich dich nicht mehr sehen darf.

Ich…« Zuerst wollte ich sagen: Ich liebe dich. Aber dann mochte ich nicht. Vielleicht

hatte sie recht, gewiß hatte sie recht. Aber sie hatte kein Recht, von mir zu fordern, daß ich

mehr für die Schule tue, und davon abhängig zu machen, ob wir uns sehen. »Ich kann dich

nicht nicht sehen.«

Die Uhr im Flur schlug halb zwei. »Du mußt gehen.« Sie zögerte. »Ab morgen hab ich

Hauptschicht. Halb sechs – dann komme ich nach Hause und kannst du auch kommen.

Wenn du davor arbeitest.«

Wir standen uns nackt gegenüber, aber sie hätte mir in ihrer Uniform nicht abweisender

vorkommen können. Ich begriff die Situation nicht. War es ihr um mich zu tun? Oder um

sich? Wenn meine Arbeit blöd ist, dann ist ihre erst recht blöd – hatte sie das gekränkt?

Aber ich hatte gar nicht gesagt, daß meine oder ihre Arbeit blöd ist. Oder wollte sie keinen

Versager zum Geliebten? Aber war ich ihr Geliebter? Was war ich für sie? Ich zog mich an,

trödelte und hoffte, sie würde etwas sagen. Aber sie sagte nichts. Dann war ich angezogen,

und sie stand immer noch nackt, und als ich sie zum Abschied umarmte, reagierte sie

nicht.

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