Alia Begisheva über das Radfahren
Selbst 70-Jährige sind mit dem Fahrrad schneller unterwegs als unsere Lieblingsrussin Alia Begisheva. Aber das ist nicht das einzige Problem: Wie soll sie ihren eleganten Business-Look beim Fahren retten?
Manchmal frage ich mich, ob Menschen, die ihr Leben nicht dort leben, wo sie aufgewachsen sind, sich in diesem Land jemals völlig zu Hause fühlen können. Ja, Menschen wie ich. Zwar geht es mir sehr gut in Deutschland. Aber es gibt Momente, da fühle ich mich an der Grenze der Integrierbarkeit. Zum Beispiel beim Fahrradfahren.
Natürlich besitzen alle Familienmitglieder bei uns ein Fahrrad – auch ich. Aber ich muss sagen, ich benutze es nur ungern. Und es gibt wenige Orte, wo man das in Deutschland öffentlich sagen darf. Vielleicht ist diese Kolumne sogar der einzige. Mein Rad wurde auch schon zweimal gestohlen. Bestimmt, weil der deutsche Fahrradgott ganz genau sieht, wer dazugehört und wer nicht.
Es geht los mit der Beschaffenheit des Hinterns. Im Gegensatz zu einem deutschen Hintern lässt sich meiner nicht mit dem Fahrrad kombinieren. Warum finde ich sonst keine bequeme Sitzhaltung auf dem Fahrrad? Deutsche klagen über Schmerzen am Hintern frühestens nach 50 Kilometern. Ich nach einem Meter.
Städte werden in Deutschland unter anderem danach bewertet, ob man dort gut Fahrrad fahren kann. Ich kenne einige Menschen, die einen Arbeitsplatz in Frankfurt am Main gesucht haben, weil man hier „von überall gut mit dem Rad ins Büro fahren kann“.
Ins Büro zu fahren, bedeutet, in Bürokleidung zu fahren. Und wie eine deutsche Frau es schafft, im kurzen Rock auf dem Fahrrad genau so auszusehen wie auf dem Bürostuhl, ist mir ein Rätsel. Jedes Mal, wenn ich es versuche, rutscht mir der Rock so hoch, dass es selbst zum Männeraufreißen an der Bar unangemessen wäre. Und dann die Schuhabsätze, die sich in den Pedalen verkeilen und kaputtgehen. Außerdem tränen meine Augen, und das ganze Make-up fließt mir das Gesicht herunter.
Während ich also schwitzend, weinend, dauernd am Rock zupfend mit schmerzendem Hintern auf dem Fahrradweg strample, fahren die Deutschen links und rechts an mir vorbei. Männer sowieso, ob im Anzug oder ohne, aber auch Frauen in Kleidern, Frauen mit Einkäufen, Frauen über 70, Frauen mit Kind auf dem Gepäckträger, Frauen mit Kind im Anhänger, Frauen mit Kind auf dem Gepäckträger und zwei Kindern im Anhänger, Frauen mit Kind auf dem Gepäckträger, zwei Kindern im Anhänger und einem daneben auf dem Kinderrad fahrenden Kind … Ich hatte gehofft, es liegt an meinem Rad. Aber ich habe festgestellt: Die Deutschen können es einfach besser.
Auf dem Fahrrad sind sie auch alle total selbstbewusst. Denn deutsche Radfahrer haben immer Vorfahrt. Eines der größten Vergehen, das man während der Autofahrprüfung in diesem Land begehen kann, ist das Nicht-über-die-Schulter-Schauen beim Abbiegen nach rechts. Weil man davon ausgehen muss, dass gleichzeitig ein Fahrradfahrer über die Straße will. Und meistens tut das auch einer.
Selbstverständlich fahren die Deutschen bei jedem Wetter mit dem Fahrrad. Auch jetzt, im Herbst, und egal, ob es regnet oder stürmt. Meistens hat der Deutsche ein praktisches Stück Funktionskleidung dabei, das er wie ein Zelt über sich und seinen Drahtesel – das Synonym für Fahrrad – wirft und so völlig trocken zu Hause ankommt. Von der Verwendung des Wortes „Drahtesel“ rate ich übrigens dringend ab – auch vom Fahrradfahren grundsätzlich. Sonst fühlt man sich in diesem Land als sehr gut integrierter Ausländer plötzlich ganz einsam.
Quelle: Deutsch Perfekt